Ist die Börse vorausschauend oder irrational, oder was treibt sie an?

Bernd Schmid · Uhr

Die letzte Berichtsaison des Jahres ist gerade vorbei. Bei dem einen oder anderen Unternehmen konnte man sich schon wundern, weshalb die Aktienkurse reagierten, wie sie reagierten.

Zum Beispiel war die Umsatz- und Gewinnentwicklung des Automobilzulieferers Aumann schwach. Der praktisch nicht vorhandene Auftragseingang im größeren Segment „Klassik“ (bei Aumann alles, was nicht mit Elektromobilität zu tun hat) war sogar schockierend. Auf der anderen Seite war der Auftragseingang im Segment Elektromobilität hervorragend.

Zu diesem eigentlich sehr gemischten Quartalsbericht hatte die Börse eine sehr klare Meinung. Allerdings nicht, wie ich es erwartet hätte. Anstatt die sehr durchwachsenen Ergebnisse abzustrafen, zog die Aktie nach Veröffentlichung des Quartalsberichts richtig an. Offensichtlich werteten die Marktteilnehmer den Auftragseingang im Segment Elektromobilität am stärksten.

Das erscheint Sinn zu machen. Immerhin sagt man ja: „An der Börse wird die Zukunft gehandelt.“ Und die Elektromobilität ist die Zukunft. Und weil Aumann nach dieser Meldung offensichtlich kurz- bis mittelfristig stark davon profitieren wird, macht ein Kauf der Aktie auf den ersten Blick wohl Sinn.

Aber wird an der Börse wirklich ganz rational die Zukunft bepreist?

Wenn das so ist, dann müsste es doch eine Korrelation zwischen der Entwicklung von Aktienkursen und der darauf folgenden Entwicklung der Unternehmensgewinne geben. Ich habe mir das einmal für die US-Börsen angeschaut. Konkret habe ich die Entwicklung des S&P 500 Index in einem Jahr mit der Entwicklung der Gewinne aller Unternehmen in diesem Index im darauf folgenden Jahr verglichen. (Leider liegen S&P Global Market Intelligence nur Daten der letzten 20 Jahre dafür vor, aber immerhin.)

In 14 der letzten 19 Jahre lag die Börse von der Tendenz her richtig. Elfmal folgten steigenden Kursen in einem Jahr auch steigende Gewinne im Folgejahr, und dreimal folgten fallenden Kursen auch fallende Gewinne. Fünfmal lag die Börse daneben: Viermal folgten fallenden Kursen steigende Gewinne und einmal folgte einem steigenden Kurs ein fallender Gewinn (das war im Jahr 2007).

Im aktuellen Jahr läuft es allerdings eher darauf hinaus, dass die Börse unrecht hat. In den letzten 12 Monaten waren die Gewinne der Unternehmen im S&P 500 in Summe praktisch identisch mit den Gewinnen im Jahr 2018. Wenn das letzte Quartal jedoch ein Indiz ist, dann dürfte das vierte Quartal eher eine negative Gewinnentwicklung bringen – und damit auch eine negative Gewinnentwicklung für das Gesamtjahr 2019.

Mathematiker werden mir ob der geringen Stichprobengröße nun (zu Recht) eins über die Rübe hauen. Aber zumindest könnte man behaupten, dass die Börse in den letzten 20 Jahren durchaus eher die Zukunft handelte (dass sie nicht immer richtig liegen kann, das liegt in der Natur der Sache, nämlich dass grundsätzlich Unsicherheit über die Zukunft herrscht).

Ist die Börse also schlussendlich doch rational?

Nur auf die letzten 20 Jahre bezogen dürfte man diese Frage wohl durchaus mit ja beantworten – (zumindest auf den Gesamtmarkt bezogen, was einzelne Unternehmen betrifft, da habe ich eine ganz andere Meinung). Ich würde aber nicht darauf wetten, dass man in 20 Jahren ein ähnliches Ergebnis bei der Auswertung der dann vorangegangenen 20 Jahre erhalten wird.

Allerdings nicht, weil ich glaube, dass die Börse heutzutage irrationaler geworden ist. Auch wenn das viele aufgrund der historisch hohen Aktien-Bewertungen, vor allem in den USA, so sehen. Ich bin eher der Meinung, dass man (er)nüchtern(d) feststellen muss, dass das Börsengeschehen in den letzten 10 bis 15 Jahren Stück für Stück eine ganz neue Dynamik entwickelt hat.

Ganz neue Dynamik

Einmal ist es das Aufstreben des passiven Investierens. Geht man rein nach dem investierten Kapital in Indexfonds, erscheint das kein großer Faktor zu sein. In Wahrheit dürfte das eigentlich passiv investierte Kapital allerdingsmehr als viermal so hoch sein.

Das in Kombination mit der anstehenden großen Rotation (Baby Boomer, die mit ihren Aktienkäufen in den letzten Jahrzehnten die Börse mitprägten, müssen in den kommenden Jahren immer mehr Aktien verkaufen) könnte zu ganz neuen Erfahrungen an der Börse führen – so etwas wie eine Spirale nach unten, aufgrund eines stetig steigenden, zwar rationalen, aber nicht fundamental begründeten Verkaufdrucks.

Entgegen dieser Dynamik könnte ein ganz anderer Akteur wirken, der heute eine viel größere Rolle spielt als in der Vergangenheit. Die Rede ist von den Zentralbanken.

Es kann einem kaum entgehen, dass es in den letzten Jahren eine Korrelation zwischen der Länge der Zentralbankbilanzen und der Höhe des S&P 500 gegeben hat. „Druckten“ die Zentralbanken in Summe Geld, stieg der S&P 500. Das Jahr 2018 zum Beispiel war laut Haver Analytics seit 2007 das erste Jahr, an dessen Ende die Summe der Bilanzen der wichtigsten Zentralbanken im Vergleich zum Vorjahr kürzer war (Geld wurde aus dem Markt genommen, Quantitative Tightening). Wir alle wissen, wie das Jahr 2018 für die Börsen endete.

Das ist natürlich alles andere als ein Beweis von Kausalität. Es erscheint mir jedoch nur schlüssig. Das ganze Geld, das die Zentralbanken durch Anleihenkäufe etc. in das Finanzsystem pumpen, muss ja irgendwo hin. Und so arg viele Möglichkeiten haben die richtig großen Jungs auch nicht, weshalb angesichts von Negativzinsen es einfach nur logisch ist, auch einen Teil des Kapitals in Aktien zu stecken, wo man immerhin noch eine positive Rendite erwarten könnte.

Nicht zu vergessen als weiterer neuer Faktor in den letzten Jahren sind die Algorithmen. J.P. Morgan schätzt, dass 20 % des in Aktien investierten (oder für Aktieninvestitionen vorgesehenen) Kapitals von sogenannten quantitativen Fonds gehalten wird. Ganz zu schweigen vom täglichen Handelsvolumen. Mit ihrem irre schnellen Handelssystem dürften diese mittlerweile den Großteil des tagtäglichen Handelsgeschehens beherrschen.

Was all diese Akteure miteinander gemein haben, ist, dass ihre Handelsentscheidungen bei Aktien in der Regel nichts mit fundamentalen Gesichtspunkten zu tun haben. Diese Trends verlieren aktuell eher nicht an Momentum. Es ist meiner Meinung nach daher durchaus rational, wenn man erwartet, dass fundamentale Entwicklungen der Unternehmen in den kommenden Jahren nicht unbedingt die Treiber der kurz- bis mittelfristigen Aktienkurse sein werden.

Wie soll man sich als Anleger nun verhalten?

Es hilft auf jeden Fall nichts, den Kopf in den Sand zu stecken. Auch wenn man meinen könnte, dass gewisse großartige Investoren das tun. Es wird zum Beispiel viel über Warren Buffetts zig Milliarden großes Cashpolster berichtet, das er einfach nicht investieren will.

Es ist auch so, dass diese Cashposition für ihn ungewöhnlich hoch ist. Es stimmt aber auch, dass Buffett bzw. sein Unternehmen Berkshire Hathaway weiterhin Aktien kauft. Der Kern ist aber, dass er das sehr selektiv tut – dort, wo er besondere Chancen sieht. Das ist auch die richtige Devise für uns Kleinanleger. Punktuell dort zu investieren, wo man fundamentale Chancen sieht.

Das Schöne bei alldem sind die oben beschriebenen Faktoren, die die Börse zu einem mehr denn je unvorhersehbaren Markt machen – bzw. wo Fundamentaldaten weniger zu zählen scheinen. Das ist jedoch nur der Anschein, davon bin ich überzeugt. Denn durch diese Faktoren ist der Großteil des Börsengeschehens auf Autopilot. Das funktioniert aber nur, solange nichts Außerordentliches geschieht. Das wird zwangsläufig aber irgendwann passieren – und am Ende werden die Fundamentaldaten entscheidend sein. Auch wenn man vielleicht länger darauf warten muss, als man es glaubt. Aber es wird sich lohnen.

Offenlegung: Bernd Schmid besitzt Aktien von Berkshire Hathaway. The Motley Fool besitzt Aktien von Berkshire Hathaway.

Foto: frankie’s / Shutterstock.com

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